Russlands Wirtschaft: Langsames Dahinsiechen
Russlands Wirtschaft steuert in die tiefste Krise seit dem Zerfall der Sowjetunion. Ein schneller Kollaps ist aber bisher nicht in Sicht – wegen der Energieexporte.
Wenn Anna derzeit zu ihrer Arbeit in einen Sankt Petersburger Vorort fährt, dann hat sie oft kein gutes Gefühl im Bauch. "Jeden Tag können schlechte Nachrichten kommen, vor allem für die Kolleginnen aus der Exportabteilung ist es im Moment wirklich aufreibend", erzählt die Petersburgerin, die ihren vollen Namen aus Angst vor Konsequenz ihres Arbeitsgebers nicht veröffentlicht sehen möchte wie auch die anderen Informanten in diesem Text. Anna arbeitet seit einigen Jahren für die Logistik am russischen Standort des finnischen Reifenherstellers Nokian Tyres.
Noch im vergangenen Jahr stellten die Finnen in ihrem Werk bei Sankt Petersburg rund 17 Millionen Autoreifen her. Fast 60 Prozent der Produktion gingen ins Ausland. Vor Kriegsbeginn prahlte der Russland-Chef von Nokian, Andrej Pantjuchow, in einem Interview mit dem russischen Wirtschaftsmagazin Expert: "Wir sind der größte Exporteur von Verbrauchergütern in Russland."
Doch seit das Land einen Krieg in der Ukraine führt und der Westen mit Sanktionen reagiert, sind die Aussichten trübe. "Wir haben jetzt schon größere Probleme mit dem Transport ins Ausland, weil nicht mehr so viele Lkw von und nach Russland fahren", berichtet Anna. "Außerdem kamen etwa 50 Prozent der Rohstoffe für die Produktion aus der EU, die jetzt nicht mehr liefern kann." Noch laufe der Betrieb weiter und die Chefs seien dabei, die Auswirkungen der Sanktionen zu prüfen. Dass die Produktion sinken wird, steht jedoch fest, denn zumindest die Reifenexporte aus Russland in die EU sind durch die Sanktionen aus Brüssel verboten. "Es ist gerade definitiv keine gute Zeit, den Job zu verlieren", sagt die Frau.
"Die Hoffnung schwindet"
So wie Anna geht es derzeit Zehntausenden Russinnen und Russen, die um ihre Jobs bei internationalen Konzernen und ihren russischen Partnerunternehmen fürchten. Schlechte Stimmung herrscht etwa derzeit in den Büros und Werkshallen von Hyundai, dessen Bänder noch bis Mai stillstehen sollen, weil wichtige Bauteile und Komponenten fehlen. Ähnlich ist die Situation beim Möbelhersteller Ikea, der in seinen Möbelhäusern und Werken rund 15.000 Mitarbeiter beschäftigt. "Noch gibt es keine Entlassungen und die Löhne werden weiter ausgezahlt, offenbar in der Hoffnung, dass der Betrieb irgendwann wieder losgehen kann", sagt Alexander, der als Verkäufer in der Ikea-Filiale in Nowosibirsk gearbeitet hat. "Viele suchen jetzt aber schon neue Jobs, weil die Hoffnung schwindet. Unsere Chefs wissen ja selbst nicht, wie es weitergeht."
Dass eine Entlassungswelle bald durch Russland ziehen wird, müssen mittlerweile auch ranghohe Offizielle anerkennen. So warnte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin kürzlich, dass allein in Moskau etwa 200.000 Arbeitsplätze bei internationalen Konzernen wegfallen könnten. Landesweit dürfte die Zahl wesentlich höher sein. Denn auch Konzerne wie der Landmaschinenhersteller Claas, die Fastfoodkette McDonalds und Modeketten wie Inditex und H&M haben ihren Rückzug bereits angetreten.
Fast zwei Monate nach Beginn des Krieges ist die russische Wirtschaft schwer angeschlagen. Führende Banken, internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds oder auch die russische Zentralbank selbst gehen von einer tiefen Wirtschaftskrise aus, in der sich das Land bereits jetzt befindet. Dabei ist der Exodus der internationalen Konzerne nur der Beginn des Problems.
Direkte Exportverbote nach Russland, der Rückzug westlicher Zulieferer und auch die Sanktionen gegen russische Banken haben den Import nach Russland einbrechen lassen. Die Rede sei von Dutzenden Prozenten allein im März, erklärte kürzlich Wladimir Putins Wirtschaftsberater Maxim Oreschkin. Eine offizielle Statistik der Zollbehörden liegt noch nicht vor. Allein die Ausfuhren aus Deutschland nach Russland sind im März jedoch um fast 60 Prozent eingebrochen.
Auf der anderen Seite kämpfen russische Konzerne mit Absatzproblemen im Ausland. Die hohen Gaspreise auf dem Weltmarkt sowie die Abkehr einiger europäischer Kundinnen haben das physische Exportvolumen im April um etwa 20 Prozent sinken lassen gegenüber dem gleichen Zeitraum 2021. Auch die Förderung ist um etwa neun Prozent zurückgegangen. Kaum besser ist die Lage in der Ölbranche. So berichteten die Agenturen Reuters und Interfax übereinstimmend, dass die Ölförderung im April bislang im Schnitt bei rund zehn Millionen Barrel pro Tag lag gegenüber elf Millionen Barrel im Februar.
Zudem müssen russische Ölhändler hohe Rabatte gewähren, um auf dem Weltmarkt konkurrieren zu können. Viele Käuferinnen haben Angst, selbst unter das Sanktionsregime des Westens fallen zu können. Wegen dieser Rabatte lag nach Angaben des russischen Finanzministeriums der durchschnittliche Exportpreis für die russische Ölsorte Urals zuletzt bei knapp 80 US-Dollar pro Barrel, während die Nordseesorte Brent im Schnitt für 108 US-Dollar pro Fass gehandelt wurde.
Die Lage für Russland könnte sich aber noch verschärfen, sollten sich die westlichen Staaten geschlossen darauf einigen, kein Öl mehr aus Russland zu importieren. Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck kündigte am Dienstag überraschend an, dass die Bundesrepublik nur noch zu geringem Teil auf russisches Öl angewiesen sei und daher ein Embargo schon bald möglich wäre. Darauf wiederrum reagierte Russland mit einem sofortigen Stopp der Gaslieferungen an Polen und Bulgarien, wobei das für alle beteiligten Länder praktisch kaum Auswirkungen haben dürfte, da die gelieferten Mengen zuletzt gering waren.
Der dritte wichtige negative Faktor ist die sinkende Konsumnachfrage. Um den Rubel zu stabilisieren, hat die Zentralbank nach Bekanntgabe der Sanktionen den Leitzins um fast 13 Prozentpunkte auf 20 Prozent hochgesetzt. Das hat die Kosten für Kredite und Hypotheken auf Immobilien in unerschwingliche Höhen gebracht. Gleichzeitig sind die Verbraucherpreise wegen knapper Importlieferungen zuletzt deutlich gestiegen. Im Jahresvergleich beträgt die Inflation derzeit 17,6 Prozent.
"Durch diese drei Faktoren dürfte der Einbruch der Wirtschaftsleistung im April mindestens bei acht Prozent liegen", sagt der Chefanalyst der Bank Loko Invest, Kirill Tremasow. "Wenn der Trend anhält, könnte die russische Wirtschaft innerhalb von einem halben Jahr etwa auf das Niveau von vor zehn Jahren zurückfallen", sagt der Ökonom. Und je länger der Krieg andauere, desto härter würden auch die Sanktionen und desto tiefer werde die Wirtschaft fallen.
Tatsächlich bleibt die Zukunft der russischen Wirtschaft ungewiss. Wegen fehlender Komponenten aus dem Westen mussten zahlreiche Industriebetriebe ihre Arbeit umkrempeln. Weil etwa bei Lada elektronische Bauteile wie ABS-Systeme oder automatische Getriebe fehlen, können derzeit nur ältere Modelle mit verminderter Ausstattung vom Band laufen. Auch der Lkw-Hersteller Kamaz hat die Produktion der modernen Baureihe K5 bis ins nächste Jahr suspendiert, um in der Zeit Ersatz für europäische Lieferanten zu suchen.
Positiver Saldo in Exportbilanz
Schwierigkeiten bereitet der Exportstopp aus Europa auch dem Zughersteller Ural Locomotives, der zusammen mit Siemens Passagierzüge in der Nähe von Jekaterinburg produziert. Der Antrieb dafür wird normalerweise in einem Siemens-Werk bei Sankt Petersburg zu großen Teilen aus europäischen Komponenten gebaut, die nicht mehr geliefert werden können. Ein russisches Alternativtriebwerk befindet sich noch im Zertifizierungsprozess.
Vor ähnlichen Problemen steht auch der Hersteller der russischen Passagierjets Suchoi Superjet, dessen Strahltriebwerke zu großen Teilen vom französischen Produzenten Safran Aircraft Engines geliefert wurden. Der russische Ersatz, an dem das Unternehmen seit Längerem arbeitet, werde die Tests erst im kommenden Jahr abschließen, sagen Branchenkenner.
Diese Probleme sind gewiss ein Schock für die russische Wirtschaft. Ihr Rückgrat werden sie jedoch kaum brechen. Einer der Gründe für die Widerstandsfähigkeit ist der positive Saldo der Exportbilanz, der sich wegen der sinkenden Einfuhren eigentlich sogar noch erhöht hat. Allein im ersten Quartal hat Russland knapp 50 Milliarden Euro mehr durch Exporte erlöst, als es für Importe aufgewandt hat.
Da die Börsenpreise für viele Rohstoffe wegen des russischen Angriffes auf die Ukraine und wegen westlicher Importverbote in die Höhe schnellen, könnte dies den Wegfall einiger Abnehmer im Westen auffangen. Zumal alternative Kundinnen bereitstehen. Allein Indien hat bereits im laufenden Jahr so viel russisches Rohöl gekauft wie im gesamten Jahr 2021.
Zudem bleibt Russland für viele Länder wichtiger Lieferant von Düngemitteln, Metallen wie Titan oder Aluminium, Getreide oder Holz. "Ein Szenario, bei dem die russische Ölförderung um 10 bis 20 Prozent zurückgeht, während sich der Exportpreis bei 70 bis 80 US-Dollar stabilisiert, ist wirklich nicht schlecht für die russische Wirtschaft", meint etwa der Ökonom Tremasow. "Den größten Einbruch sehen wir jetzt im laufenden Quartal. Danach dürfte der Verfall sich deutlich verlangsamen."
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